► Schwerwiegende Vorwürfe
Die Anschuldigungen der Krankenkassen sind schlimm und wiederholen sich seit Jahren: Millionenfach - in rund der Hälfte der Fälle – seien die Abrechnungen deutscher Krankenhäuser falsch, die angeführten Behandlungen würden nicht in dem angegebenen Umfang erbracht oder teilweise sogar gar nicht. Die Krankenkassen stützen ihre Vorwürfe auf Prüfungen, die vom „Medizinischen Dienst“ durchgeführt wurden und beklagen, durch die vorsätzlichen Falschabrechnungen entstehe der Versichertengemeinschaft ein Schaden in Milliardenhöhe.
Was wie ein ungeheuerlicher Skandal klingt (und von einigen Medien auch immer wieder so übernommen wird) entpuppt sich bei gründlicher Betrachtung als ein Streit um Auslegungsfragen:
- Wenn es sich wirklich um Täuschung, also vorsätzlich falsche Abrechnungen handeln würde, wäre der Straftatbestand des Betrugs gegeben und Staatsanwaltschaften oder Strafgerichte müssten sich mit tausenden Verfahren beschäftigen – tatsächlich waren es in den vergangenen 17 Jahren (seit Einführung des derzeit geltenden Abrechnungssystems) aber nur einzelne Ausnahmefälle von persönlichem Fehlverhalten.
- Bei den meisten der beanstandeten Rechnungen ging es um eine unterschiedliche medizinisch-fachliche Auslegung – wobei die Rechnungsprüfer nach Aktenlage beurteilen und das Krankenhaus nach tatsächlichem Zustand des untersuchten Patienten.
- Prüfer bemängeln bemängeln beispielsweise, dass Patienten nicht am Tag der Operation, sondern einen Tag davor aufgenommen werden. Anders ist das logistisch aber oft nicht möglich. Ebenso können die Krankenhäuser Patienten vielfach nicht entlassen, weil es keinen Platz für sie in einer nachsorgenden Einrichtung gibt. In beiden Fällen werden Abrechnungen jedoch oft als „Falschabrechnung“ beanstandet.
- Die Abrechnungs-Regelungen sind oft unklar definiert und es gibt bei den Verfahrens- und Verwaltungsfragen großen Interpretationsspielraum. Vieles wird von den Prüfern und den Krankenhäusern unterschiedlich ausgelegt und muss im Streitverfahren geklärt werden – doch auch solche strittigen Abrechnungen führt die Krankenkassen-Statistik als „falsch“.
- Bei vielen Prüffällen geht es offensichtlich auch nicht um die sachliche Klärung, ob der Behandlungsaufwand mit der Abrechnung übereinstimmt, sondern nur darum, eine Rechnungskürzung vornehmen zu können. Ein fehlendes Handzeichen in einer Dokumentation kann dafür schon ausreichen.
- Obwohl sie sich bei der Auslegung im Recht sehen, akzeptieren Kliniken in strittigen Fällen oftmals die Auffassung der Prüfer, da ansonsten erst nach jahrelangen Auseinandersetzungen entschieden und gezahlt würde.
- Nach gesetzlichem Auftrag wurden im Jahr 2020 „nur“ fünf Prozent der Krankenhausabrechnungen (= 1,9 Mio. Rechnungen) geprüft. Diese wurden von den Prüfern jedoch nicht nach dem Zufallsprinzip ausgewählt, sondern mit gezielter Strategie und nach Erfolgsaussicht. Also solche Abrechnungen, bei denen es sich erkennbar um Grenzfälle handelt und sich eine Beanstandung lohnt.
- Eine solche Prüfauswahl ist nicht „stichprobenartig“, sondern gezielt. Dennoch behaupten die Krankenkassen, die Beanstandungs-Quote ließe sich auf die Gesamtzahl der Abrechnungen übertragen – eine klare Desinformation! Unabhängige Experten wie die Fachärzte und Gesundheitsökonomen Dr. med. Kaysers und Dr. med. Stockmanns gehen davon aus, dass 96 Prozent der Krankenhausabrechnungen korrekt kodiert sind.
► Ursachen und Folgen des Streits
Auslöser für die Auseinandersetzungen bei der Abrechnung sind die unübersichtlichen und sich zum Teil selbst widersprechenden gesetzlichen Regelungen. Seit Einführung des Abrechnungssystems mit Fallpauschalen im Jahr 2003 gab es hunderte größere und kleinere Anpassungen, Ergänzungen und Korrekturen des Systems, das inzwischen selbst für Experten geradezu undurchschaubar ist.
Die Abrechnungen und ihre Überprüfung führen heute bei Krankenhäusern, Krankenkassen, dem Medizinischen Dienst, Schiedsstellen und Sozialgerichten zu einem kaum noch zu rechtfertigenden Aufwand in Milliardenhöhe. Es werden immense zeitliche, finanzielle und personelle Ressourcen gebunden, die der Patientenversorgung fehlen.
Allein bei den Krankenhäusern beträgt der zum Bearbeiten der Rechnungsprüfungen notwendige Verwaltungsaufwand hochgerechnet bundesweit rund 3,1 Mio. Arbeitsstunden und verursacht dort zusätzliche Kosten in Höhe von etwa 500 Mio. Euro. Der Medizinische Dienst hat ein jährliches Budget von 1,1 Mrd. Euro, derzeit sind dort über 6.000 Ärztinnen, Ärzte und Pflegefachkräfte beschäftigt. Die Kosten der Krankenkassen, Schiedsstellen und Sozialgerichte lassen sich nur grob schätzen, dürften aber sicherlich nicht unter denen der Krankenhäuser liegen. Dem stehen Rückerstattungsbeträge zugunsten der Kostenträger in Höhe von rund zwei Mrd. Euro (ermittelt im Jahr 2019) gegenüber, in der Summe also selbst bei wohlwollender Betrachtung kein Gewinn.
► Gibt es eine Lösung?
Der Gesetzgeber hat zumindest erkannt, dass sich etwas ändern muss und im Jahr 2019 das „Gesetz für bessere und unabhängigere Prüfungen“ (MDK-Reformgesetz) beschlossen. Die grundlegenden Probleme wurden damit aber noch nicht gelöst. Sinnvoller wäre eine Vereinfachung des gesamten Abrechnungsverfahrens.