► Warum eine Richtlinie die Versorgung gefährdet
Die „Richtlinie über die personelle Ausstattung der stationären Einrichtungen der Psychiatrie und Psychosomatik“ (PPP-RL) legt seit Januar 2020 verbindliche Vorgaben zur Mindestausstattung des therapeutischen Personals in psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäusern fest. Beschlossen wurde die PPP-RL vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA).
Die Einhaltung der Vorgaben ist für die Krankenhäuser jedoch nahezu unmöglich. Wenn die Richtlinie nicht ausgesetzt und verändert wird, müssen die Kliniken ihre Behandlungsplätze reduzieren – was aber durch die sogenannte Pflichtversorgung kaum möglich sein wird. Die Kliniken werden so entweder zum Verstoß gegen die Pflichtversorgung oder gegen die verbindlichen Personalvorgaben gezwungen. Die sich daraus ergebenden juristischen Folgen sind völlig ungeklärt.
► Wieso die Vorgaben nicht eingehalten werden können
Die Mindestpersonalvorgaben sind gemäß der Richtlinie von den einzelnen Einrichtungen für jede therapeutisch und pflegerisch tätige Berufsgruppe in Form von Vollkraftstunden zu berechnen und je Quartal nachzuweisen. Die Berechnung erfolgt auf Basis von festgelegten Faktoren, mit denen der ermittelte Behandlungsaufwand in Mindestpersonalvorgaben übersetzt wird. Einrichtungsunabhängig gelten hierbei festgelegte berufsgruppenspezifische Minutenwerte.
Die Vorgaben für die Pflegekräfte sind im Verhältnis zu den Therapeuten und Psychologen zu hoch. Die Kliniken müssten mehr Pflegepersonal einstellen – das für die leitlinengerechte Behandlung aber nicht benötigt wird und auf dem Arbeitsmarkt auch gar nicht vorhanden ist. Bereits heute haben drei Viertel aller psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen Probleme, offene Stellen im Pflegedienst zu besetzen, im Durchschnitt sind hier rund zehn Stellen unbesetzt (vgl. DKI-Barometer 2019/2020 hier).
► Wie es zu der fehlerhaften Richtlinie gekommen ist
Der Gesetzgeber wollte die Qualität in der psychiatrischen, kinder- und jugendpsychiatrischen und psychosomatischen Versorgung durch verbindliche Vorgaben zur Mindestausstattung des Personals verbessern. Die dazu vorgesehene Richtlinie wurde auf Betreiben der Krankenkassen gegen die Stimmen der Krankenhäuser vom G-BA erlassen. Anders als dem Gesetzgeber geht es den Krankenkassen nicht um eine Verbesserung der Versorgung, sondern um Kostensenkung und die „Bereinigung“ von Krankenhausstrukturen – also die Schließung von Standorten.
► Die Fehler im Detail
- Falsche Grundlagen: Die zentralen Vorgaben berücksichtigen zu wenig die Situation vor Ort. Selbst wenn sich Krankenkassen und Krankenhäuser über eine Anrechnung unterschiedlicher Berufsgruppen einig wären, wird diese eng begrenzt. Bei psychosomatischen Krankenhäusern und Fachkrankenhäusern mit psychotherapeutischem Ansatz ist die Besonderheit dadurch gekennzeichnet, dass sich Patient:innen, die unter Krankheitsbildern wie Depressionen, Essstörungen, Zwangserkrankungen und posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, meist mobil sind und selbständig ihren Alltag bewältigen können, dafür aber einen hohen Bedarf an psychotherapeutischer Behandlung haben. Da Patient:innen in der psychosomatischen Versorgung weniger klassische Pflege benötigen, werden diese in großen Fachkliniken und Fachabteilungen meist über eine Medizinische Zentrale mit Zentraler Pflege abgebildet, was große Synergien schafft und Ressourcen freisetzt, die an anderer Stelle genutzt werden können. Durch die Richtlinie und die hier vorgesehenen Mindestpersonalvorgaben für Pflege sind diese Häuser gezwungen, erfahrene Psychotherapeuten abzubauen, um im stark umkämpften Arbeitsmarkt Pflegekräfte zu gewinnen, die an anderer Stelle dringend benötigt werden. (vgl. Dr. Mate Ivančić im Interview mit „ÄrzteTag“ hier)
- Bürokratie: Die negative Wirkung der Richtlinie wird dadurch verschärft, dass sie kleinteilige Nachweise vorsieht. So ist die Personalbesetzung ist monatlich zu erfassen und quartalsweise nachzuweisen und das mit Stationsbezug. Mit moderner psychiatrischer und psychosomatischer Versorgung ist das nicht vereinbar. Schon längst lässt sich das beschäftigte Personal nicht mehr der einzelnen Station zuordnen. Indikationsspezifische Angebote, etwa im Bereich der Spezial- und Bewegungstherapie, richten sich in aller Regel an Patient:innen vieler Stationen. Wenn nun alles Personal wieder der Station zugeordnet werden muss, dann wird Versorgung in ein Stationskorsett gepresst, das psychiatrische und psychosomatische Versorgung in längst überwundene Versorgungsstrukturen zurückwirft. Zudem ist dazu ein extrem aufwändiges und bürokratisches Verfahren erforderlich, welches beispielsweise dazu führt, dass ein Team von Ergotherapeut:innen, das stationsübergreifend Patient:innen behandelt, minutengenau einer Station zugeordnet werden muss. Dies steht der notwendigen Entbürokratisierung in der Versorgung entgegen.
- Unverhältnismäßige Sanktionen: Wenn die Mindestvorgaben nicht eingehalten werden können, sollen ab 2023 Sanktionen greifen, wonach den Kliniken ein Vergütungswegfall in drei bis vierfacher Höhe der entsprechenden Bruttopersonalkosten droht.
► Fazit:
Es ist dringend notwendig die Richtlinie grundsätzlich zu überarbeiten. Das fordern übrigens nicht nur Fach-, Berufs- und Klinikverbände, sondern auch die Gesundheitsministerkonferenz der Länder (GMK). Bereits im Juni 2021 hatte sie per öffentlichem Beschluss die Aufforderung an den zuständigen G-BA gerichtet, die Richtlinie so anzupassen, dass Anreize für die Entwicklung einer leitliniengerechten, patientenzentrierten, flexiblen und gemeindenahen Versorgung gesetzt werden. Sehr umfassend und detailliert kritisierte die GMK die aktuelle Regelungspraxis der PPP-RL auch im Juni 2022. Den entsprechenden Beschluss können Sie hier nachlesen. Danach sind die Mindestpersonalvorgaben zu starr und können aufgrund im Jahresverlauf wechselhafter Inanspruchnahme der Psychiatrien zu Sanktionen für die Krankenhäuser führen. Deshalb fordert die GMK
- die PPP-RL grundlegend zu überarbeiten,
- bis dahin die Sanktionen auszusetzen,
- den monatlichen Nachweis der Mindestpersonalvorgaben auf Stationsebene zu streichen und
- die Flexibilität des Personaleinsatzes zu erhöhen.
Darüber hinaus stellt die GMK fest, dass im Zusammenwirken mit den Regelungen in der BPflV Unsicherheiten bestehen. Die Mindestpersonalvorgaben der PPP-RL sind keine Anhaltszahlen für eine Personalbemessung gemäß BPflV. Aus diesem Grund sind Probleme bei der Budgetfindung mit den Krankenkassen zu erwarten. Hier fordern die Länder den Gesetzgeber auf, beide Regelungen dringend aufeinander abzustimmen.
Quellen und weitere Informationen:
Pressemitteilung des Bundesverbandes Deutscher Privatkliniken vom 29.06.2021
Aufzeichnungen von der Diskussionsveranstaltung „Quo Vadis Psychiatrie?“ der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG)
Pressemitteilung der DKG vom 05.07.2021 zum Thema „Qua Vadis Psychiatrie?“